Dieser Gastartikel wurde verfasst von Chris Neuffer und Frauke Linne vom Konzeptwerk neue Ökonomie.
Im Zentrum einer klimagerechten Gesellschaft würden die Bedürfnisse aller Menschen stehen statt Profite. Die Wirtschaft würde sich um die Sorge füreinander und unsere Umwelt drehen. Alle Menschen hätten Zugang zu Wohnraum, Nahrung und Gesundheit. Wir hätten genügend Zeit für uns und unsere Liebsten, für Dinge, die wir gerne tun, und für eine lebendige Demokratie. Diese Utopie mag in Zeiten von Klimakrise und Rechtsruck in weiter Ferne erscheinen, doch solche Visionen sind notwendig, um uns daran zu erinnern, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Und es braucht konkrete Bausteine, die wir zu einer Vision der Gesellschaft zusammensetzen können. Ein solcher Baustein ist die kollektive Arbeitszeitverkürzung. Die Erwerbsarbeitszeit für alle auf eine 4-Tage-Woche und schrittweise auf 28-25-20 Stunden zu reduzieren, ist ein entscheidender Schritt in Richtung Klimagerechtigkeit, weil er Raum für die Aushandlung schafft, welche Arbeiten wirklich wichtig sind. Eine Arbeitszeitverkürzung bringt die Frage auf den Tisch: Wofür leben wir eigentlich? Welche Arbeiten sind essentiell für ein gutes Leben für alle? Welche Formen von Arbeit sind es nicht?
Ungerecht verteilte Arbeit
Arbeit wird meist mit Erwerbsarbeit gleichgesetzt, während andere Formen von Arbeit, wie unbezahlte Sorgearbeit, oft unbeachtet bleiben. Sorgearbeit umfasst Tätigkeiten wie Putzen, Pflegen von Angehörigen, Gärtnern, Selbstfürsorge, in emotionalen Krisen für andere da sein und politisches Engagement wie Ehrenamt oder Aktivismus. Diese Arbeiten sind gesellschaftlich notwendig, auch wenn sie oft unbezahlt sind – ohne sie würde nichts funktionieren. Ohne sie könnte kein Mensch eine Schicht im Büro oder Betrieb beginnen. Dennoch wird diese Arbeit oft nicht als Arbeit anerkannt oder gerecht entlohnt.
In Berufen wie der Altenpflege, in Kitas und Grundschulen arbeiten mehrheitlich Frauen und viele LGBTQI*-Personen (DIW, 2020). Diese Berufe werden strukturell abgewertet und gehen oft mit schlechten Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhnen einher. Menschen arbeiten in diesen Berufen oft in Teilzeit, weil die Arbeitsbelastung so hoch ist. Die ungleiche Verteilung von Arbeit und Zeit beschränkt sich allerdings nicht nur auf Geschlechterunterschiede. Auch Klasse, Rassismus und Ableismus spielen eine Rolle. Menschen, die strukturelle Diskriminierung erleben, sind häufig ärmer und auf schlecht bezahlte Jobs angewiesen. Besonders prekär ist es für Menschen ohne Aufenthaltstitel oder Arbeitserlaubnis.
Ein Beispiel für besonders prekäre Arbeitsbedingungen ist die 24-Stunden-Betreuung: Viele pflegebedürftige Menschen in Deutschland werden von osteuropäischen Migrant*innen, meist Frauen, versorgt. Diese arbeiten oft für geringen Lohn und mit entgrenzten Arbeitszeiten. Das führt zu Versorgungslücken in den eigenen Familien dieser migrantischen Pflegekräfte. Häufig werden diese Lücken durch ältere Familienangehörige oder weitere migrantische Pfleger*innen kompensiert. So entstehen über nationale Grenzen hinweg „Globale Sorgeketten“ (Global Care Chains). Statt die Sorgearbeit zwischen verschiedenen Geschlechtern umzuverteilen, wird sie von in Ländern des Globalen Nordens oft an ärmere, migrantische Frauen ausgelagert.
Eine kollektive Erwerbsarbeitszeitverkürzung ist also eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Sie schafft die Möglichkeit, Arbeit und Zeit für alle Beteiligten gerechter zu verteilen. Eine 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich könnte dazu beitragen, unbezahlte Sorgearbeit umzuverteilen und die Belastung von Beschäftigten, z.B. in der Altenpflege, zu verringern. Dies würde insbesondere FLINTA* und Migrant*innen zugutekommen, die den Großteil dieser so notwendigen Arbeit leisten.
Arbeitszeitverkürzung als Werkzeug
Historisch setzten sich Arbeiter:innen immer wieder für eine Arbeitszeitverkürzung ein. Ein 7-wöchiger Streik der Beschäftigten in der westdeutschen Metallindustrie 1984 brach die 40-Stunden-Woche: Nach Aussperrungen und Gerichtsverfahren erkämpften die Arbeiter:innen eine Reduzierung ihrer Wochenarbeitszeit auf 38,5 Stunden. Es dauerte noch 11 weitere Jahre, bis die Arbeitgeber:innen 1995 einer weiteren Reduzierung auf 35 Stunden zustimmten. Auch die Tarifverhandlungen der Lokführergewerkschaft mit der Deutschen Bahn führen zu einer stufenweisen Reduzierung der Arbeitszeit auf 35 Stunden pro Woche bei vollem Lohnausgleich. Solche Kämpfe zeigen, dass Veränderungen möglich sind, wenn genügend Druck ausgeübt wird.
Für eine zukunftsfähige, klimagerechte Wirtschaft brauchen wir dringend eine kollektive, also branchenübergreifende Arbeitszeitverkürzung. Konkret schlagen wir eine kollektive Erwerbsarbeitszeitverkürzung auf 28 Stunden in einer 4-Tage-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich vor. Mit vollem Personalausgleich ist gemeint, dass für das Senken der Arbeitsstunden mehr Menschen eingestellt werden müssen. Konkret verhindert das die stärkere Verdichtung von Arbeitszeit für Menschen. Längerfristig sollten wir einen Reduktion hin zu 20 bis 25 Wochenstunden anstreben, um Arbeit und verfügbare Zeit noch stärker umzuverteilen.
Mehr Zeit für ein gutes Leben: Die 4-Tage-Woche
Ein Pilotprojekt in Großbritannien, bei dem rund 60 Unternehmen eine 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich einführten, zeigte positive Auswirkungen wie weniger Stress und gesunkenes Burnout-Niveau bei gleichbleibender Produktivität (Frey, 2023). Weniger Erwerbsarbeit bedeutet auch mehr Zeit für persönliche Interessen und Selbstfürsorge, was letztlich zu einer höheren Lebensqualität beiträgt. Zudem öffnet weniger Erwerbsarbeit auch Raum dafür, die Verteilung und Übernahme unbezahlter Sorgearbeit neu zu verhandeln. Eine kollektive Arbeitszeitverkürzung führt nicht nur zu einer verbesserten Lebensqualität und einer Umverteilung von Arbeit, sondern ist ebenso notwendig für einen sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft. Klimaschädliche Bereiche, wie die Chemieindustrie, die fossile Energiebranche oder die Rüstungsindustrie müssen rückgebaut und umgewandelt werden. Stattdessen sollten klimafreundliche und lebensnotwendige Bereiche wie eine solidarische Gesundheitsversorgung, resiliente und ökologische Ernährungssysteme und der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) ausgebaut werden. Dieser Umbau kann durch eine Arbeitszeitverkürzung gefördert werden.
Eine Arbeitszeitverkürzung kann dazu beitragen, die Menge an produzierten Gütern zu reduzieren, was zu weniger Ressourcenverbrauch und geringeren Treibhausgasemissionen führt. Das ist gut fürs Klima. Beim Ausbau von Care-Infrastrukturen wie Kitas und Krankenhäusern kann eine Arbeitszeitverkürzung dazu beitragen, dass mehr Menschen diese Arbeit langfristig leisten können, ohne auszubrennen – auch weil sie selbstbestimmter über ihre Zeit verfügen könnten. Und weil die Arbeitszeitverkürzung bei vollem Personalausgleich geschehen soll. Das ist notwendig, wenn wir Sorge ins Zentrum stellen wollen.
Weniger Erwerbsarbeit heißt auch mehr Zeit für demokratische Mitgestaltung und Engagement. Unsere Gesellschaft lebt von Menschen, die sich einbringen, in Nachbarschaftsinitiativen, sozialen Zentren oder Sportvereinen beispielsweise. Doch wer hat Zeit dafür? Menschen, die neben ihrem Job noch viel unbezahlte Care-Arbeit leisten, wohl kaum. Auch Menschen, die mehrere Jobs haben, um finanziell über die Runden zu kommen, können gesellschaftliches Engagement schon rein zeitlich nicht leisten, abgesehen davon, dass sie nach einer 40-Stunden-Woche dafür keine Kraft mehr haben. Aktuelle Krisen wie hohe Inflation oder steigende Mieten verschärfen für viele ihre finanzielle Situation und kosten emotionale Ressourcen. Neben politischen Maßnahmen braucht es auch eine gewerkschaftlich erwirkte Arbeitszeitverkürzung, um dem zu begegnen. Es müssen entsprechende Bedingungen geschaffen werden, damit alle Menschen ihre Grundbedürfnisse erfüllen können, ohne auszubrennen oder stärker von Armut betroffen zu sein. Menschen brauchen mehr freie Zeit, um mit ihren Perspektiven die Gesellschaft zu bereichern. Insbesondere mit Blick auf das Erstarken rechter Parteien sind Räume, in denen wir uns respektvoll und wohlwollend begegnen können und von unterschiedlichen Lebensrealitäten lernen können, dringend notwendig. Auch um uns zu verbinden und zu verbünden. Für solche Räume braucht es Zeit.
Eine klimagerechte Gesellschaft gestalten
Eine kollektive Arbeitszeitverkürzung lädt uns ein, über unsere eigene Verwendung von Zeit und die Hierarchisierung von verschiedenen Arbeiten nachzudenken. Welche Arbeiten sind unverzichtbar für ein gutes Leben für alle? Wie gestalten wir eine Gesellschaft, die das Lebensnotwendige in den Mittelpunkt rückt?
Um das Leben und die Bedürfnisse der Menschen und Lebewesen über Profite zu stellen, müssen wir grundlegend neu aushandeln, welche Arbeiten wichtig sind. Ein wichtiger Punkt dabei ist eine kollektive Arbeitszeitverkürzung, die Raum für solche Diskussionen öffnet. Eine kollektive Arbeitszeitverkürzung ist ein konkreter Schritt in Richtung Klimagerechtigkeit, weil mit ihr Care ins Zentrum der Wirtschaft rücken kann. Sorgearbeit in den Mittelpunkt zu stellen bedeutet, dass wir den Ausbau von Care-Infrastrukturen vorantreiben müssen. Die Arbeitsbedingungen für Menschen in der bezahlten Care-Arbeit müssen sich verbessern, damit der gesellschaftliche Bedarf nach guter Sorge endlich gedeckt werden kann. Und unbezahlte Care-Arbeit muss als Arbeit anerkannt, wertgeschätzt und gerechter verteilt werden. Für all das braucht es eine kollektive Erwerbsarbeitszeitverkürzung mit vollem Personal- und Lohnausgleich.
Die Umverteilung von Arbeit und Zeit ist längst notwendig und überfällig. Die Norm einer 40-Stunden-Woche ist weder aus sozialer noch ökologischer Perspektive zukunftsfähig. Wir brauchen eine Arbeitszeitverkürzung für alle, um Geschlechtergerechtigkeit und Klimagerechtigkeit zu erreichen. Nur durch die Umverteilung von Arbeit und Zeit können wir einem guten Leben für alle näherkommen: Ein Leben, in dem sich alle aufgehoben und umsorgt fühlen und nicht um ihre Gesundheit und Existenz bangen müssen. Daher wollen wir heute und nicht irgendwann: Die 4-Tage-Woche für alle!
Über die Autor:innen
Chris Neuffer (chris / they) beschäftigt sich im Konzeptwerk neue Ökonomie mit Fragen rund um Sorgearbeit, Kapitalismus und Machtkritik. Dabei liegen Chris insbesondere queere und trans* Perspektiven am Herzen. They produziert den feministischen Podcast „Danke für Nichts“, schreibt Beiträge und gibt Workshops zu feministischer Wirtschaftskritik.
Frauke Linne (frauke / sie) sorgt im Fundraising-Team für die nötigen finanziellen Mittel, um den gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben. Sie ist feministisch aktiv und setzt sich dabei vor allem gern für die Aufwertung von Care-Arbeit ein.
Literatur
DIW (2020). DIW Wochenbericht: LGBTQI*-Menschen am Arbeitsmarkt: hoch gebildet und oftmals diskriminiert.
Frey, P. [Hrsg.] (2023). Die Vier-Tage-Woche im Vereinigten Königreich. Die Ergebnisse des bislang größten Pilotprojekts weltweit.
International Labour Organization [ILO] (2018). Care Work and Care Jobs For the Future of Decent Work
Kochskämpfer, S., Neumeister, S. Und Stockhausen, M. (2020) IW-Trends 4/2020
Wer pflegt wann und wie viel? Eine Bestandsaufnahme zur häuslichen Pflege in Deutschland.
Statistisches Bundesamt (2024a). Wo bleibt die Zeit? Ergebnisse zur Zeitverwendung in Deutschland 2022
Statistisches Bundesamt (2024b). Teilzeitquote erneut leicht gestiegen auf 31 % im Jahr 2023. Pressemitteilung Nr. N017 vom 26. April 2024