Was bedeutet es, hochsensibel zu sein?
Hochsensible Menschen nehmen Reize aus der Umwelt intensiver wahr und verarbeiten diese tiefer als normalsensible Personen. Die Wissenschaft zeigt, dass bei diesen etwa 20 bis 30 Prozent der Menschen (und nicht nur Menschen, Hochsensibilität findet sich auch in anderen Spezies wieder) das Nervensystem anders funktioniert. Aufgrund verringerter Reizfilterung arbeitet es quasi kontinuierlich auf Hochtouren. Im Gehirn ist - anders als bei normalsensiblen Menschen - kaum ein Unterschied zwischen Anstrengung und Pause zu erkennen. Die Folgen: Hochsensible Personen fühlen sich schneller gestresst, überfordert, erschöpft, überreizt.
Das klingt alles erst einmal nicht nach dem/der optimalen Mitarbeitenden. Und doch fühlt es sich meist so an, als wären mindestens zwei Arbeitskräfte weg, wenn eine hochsensible Person das Unternehmen verlässt. Diese Menschen halten sich oftmals im Hintergrund, sind jedoch extrem leistungsfähig - wenn sie unter den richtigen Bedingungen und in einem geeigneten Umfeld arbeiten. Darüber hinaus verfügen sie über ganz besondere Stärken, von denen Ihr Impact-Unternehmen stark profitieren kann. In diesem Artikel möchte ich Sie dafür sensibilisieren, welche Potenziale hochsensible Mitarbeitende bergen und wie Sie als Arbeitgeber:in oder Führungskraft dazu beitragen, diese zur Blüte zu bringen.
Verborgene Potenziale - die Stärken hochsensibler Mitarbeiter:innen
Motivierte Überzeugungstäter:innen
Es ist kein Zufall, dass sich gerade in den sozialen und nachhaltigen Branchen besonders viele Hochsensible wiederfinden, denn: Ein ganz typisches Merkmal hochsensibler Personen ist das Bedürfnis, beruflich etwas Sinnvolles zu tun und einen positiven Unterschied für den Planeten oder andere Menschen zu bewirken. Ich persönlich kenne sehr viele hochsensible Personen und keine einzige davon gibt sich mit einem Beruf zufrieden, der ihnen nicht dieses Gefühl der Sinnerfüllung vermittelt. Für Hochsensible gibt es meist keine starke Trennung zwischen dem Berufs- und Privatleben. Sie wollen sich beruflich für eine Sache einsetzen, die ihnen auch als Person am Herzen liegt. Ein Job ist für sie so viel mehr als einfach nur ein Mittel zum Zweck und Broterwerb.
Sie sind sehr werteorientiert und verfügen daher über eine enorm starke intrinsische Motivation. Das bedeutet: Gerade dann, wenn Hochsensible das Gefühl haben, etwas Sinnvolles für andere mit ihrer Arbeit zu bewirken, bringen sie sich mit allem, was sie haben, und als ganze Person voll ein. Daher profitieren gerade NGOs, Social Businesses und Unternehmen mit Nachhaltigkeitsbezug von hochsensiblen Mitarbeitenden enorm.
Zwischenmenschliche Supertalente
Hochsensible Personen haben besonders feine Antennen für die Gefühle und Bedürfnisse ihrer Mitmenschen. Sie bemerken Schieflagen in der Teamdynamik und beim Arbeitsklima, die unter der Oberfläche »brodeln«, lange bevor sie anderen bewusst werden. Darüber hinaus verfügen sie über große Empathie und ein Talent dafür, sich in verschiedene Perspektiven hineinzuversetzen. Sie sind daher hervorragende Mediator:innen und fungieren als eine Art Frühwarnsystem für potenzielle Konflikte.
Kreative Genies
Die innere Gedankenwelt hochsensibler Menschen ist reich und komplex. Diese Menschen sind typische Innovator:innen und Out-of-the-box-Denker:innen. Da sie so viel wahrnehmen, haben sie das große Ganze im Blick und sehen auch Zusammenhänge und Querverbindungen, die anderen womöglich verborgen bleiben. Eine Vielzahl bekannter Erfinder:innen und Künstler:innen sind bzw. waren hochsensibel. Gedanklich sind sie nie nur in ihrem Aufgabenbereich unterwegs, sondern bedenken Konsequenzen in alle möglichen Richtungen. Das ist sehr bereichernd, wenn es darum geht, neue Ideen oder Lösungen zu finden. Außerdem haben die meisten Hochsensiblen ein überaus gutes Gespür für Trends. Viele von ihnen haben einfach eine Art siebten Sinn dafür, was die Menschen gerade interessiert und wo es künftig eine hohe Nachfrage geben wird.
Präzise Analytiker:innen
Genauso, wie sie das große Ganze im Blick haben, gehen sie jedoch auch in die Tiefe. Hochsensible sind meistens sehr detailverliebte Menschen. Sie nehmen Nuancen wahr, die anderen entgehen. Egal, ob es sich um Tippfehler in einem wichtigen Dokument handelt, ein schickes Detail, das einem Produkt den letzten Schliff verleiht, oder den traurigen Unterton in der Stimme einer Teamkollegin, der es gerade privat nicht gut geht.
Aufgrund ihrer Tendenz, die Dinge bis ins kleinste Detail zu analysieren, und zum anderen, sämtliche Auswirkungen zu beachten, wägen Hochsensible bei wichtigen Entscheidungen mögliche Konsequenzen sorgfältig ab. Sie benötigen dafür manchmal mehr Zeit, doch die Entscheidungen, die sie dann treffen, sind gut durchdacht und fundiert. Hochsensible eignen sich daher perfekt als Ratgebende bei strategischen Entscheidungen.
Resiliente Ruhepole
Moment - habe ich weiter oben nicht geschrieben, dass sich hochsensible Personen schneller gestresst fühlen? Ja, genau. Und exakt deshalb entwickeln Hochsensible oft bereits früh in ihrem Leben ganz natürlicherweise gesunde Strategien, um mit Stress und belastenden Situationen gut umzugehen. Das, was weniger sensible Menschen in Stressmanagement-Seminaren lernen, haben einige Hochsensible schon seit langer Zeit in ihren Alltag integriert - gerade weil sie ja gar nicht anders können.
Insbesondere die Menschen, die sich ihrer Hochsensibilität bewusst sind, kennen sich selbst sehr gut und strahlen die Ruhe, die sie gelernt haben, sich selbst zu geben, auch nach außen für andere aus. Im beruflichen Kontext sind es oft die Hochsensiblen, die einen kühlen Kopf in Krisensituationen bewahren.
Loyale Weggefährt:innen
Aufgrund ihrer hohen Werteorientierung und ihrer Tendenz, tiefe Verbindungen gegenüber oberflächlichen Bekanntschaften zu bevorzugen, sind hochsensible Personen meist zuverlässige und konstante Mitstreiter:innen ihrer Organisation. Hochsensible haben das Potenzial, die Vision Ihres Unternehmens genauso zuverlässig und langfristig voranzutreiben, als wäre es ihr eigenes. Vorausgesetzt, sie erfahren die richtigen Arbeitsbedingungen.
Das ideale Umfeld - das brauchen hochsensible Menschen
Reizarme Umgebung
Wenn eine hochsensible Person nach einem eigenen Büro fragt, können Sie sich sicher sein, dass sie das nicht aus Status-Gründen tut. Da hochsensible Personen Außenreize, wie beispielsweise Telefonklingeln, Nebengespräche, Radio, Drucker, etc. ohne Filter wahrnehmen, ist es nahezu unmöglich für sie, sich in einem Großraumbüro auf irgendetwas auch nur ansatzweise zu konzentrieren. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten an einem bestimmten Projekt, möchten Ihren ganzen Fokus darauf ausrichten, und jemand piekst Ihnen währenddessen kontinuierlich die Spitze einer Stecknadel in den Arm. Das würde Sie vermutlich aufregen. Wahrscheinlich würden Sie sagen: So kann ich nicht arbeiten. Erst einmal muss ich dafür sorgen, dass dieses ständige Pieksen aufhört. Das klingt vermutlich zunächst seltsam, veranschaulicht jedoch gut, wie sehr sich hochsensible Personen (HSP) durch Außenreize beeinträchtigt fühlen.
Für viele Hochsensible sind auditive oder auch visuelle Reize wie Schmerz. Sie versuchen daher ganz intuitiv, sich Rückzugsorte zu schaffen. Nehmen Sie das bitte ernst. Hochsensiblen geht es nicht darum, immer eine »Extrawurst« einzufordern. Sie benötigen tatsächlich Ruhe und Abgrenzung, um richtig gute Arbeit machen zu können. Stille ist für viele für sie wie die Luft zum Atmen.
Soziale Harmonie
Es gilt natürlich nicht nur für HSP, dass sich ein harmonisches Arbeitsumfeld positiv auf das Wohlbefinden und die Arbeitsergebnisse auswirkt. Doch für HSP ist dies ganz besonders wichtig - denn sie verfügen über sehr feine soziale Antennen und merken sofort, wenn etwas nicht stimmt. Natürlich ist es unrealistisch, überhaupt keine Reibungen im Team zu haben. Konflikte und Meinungsunterschiede sind ein normaler Teil des Lebens, privat, wie auch beruflich. Es kommt darauf an, wie diese ausgetragen werden. Hierfür lohnt es sich, in Teambuilding-Workshops zu investieren und generell eine wertschätzende Kommunikation im Team zu fördern und selbst zu leben. Je besser sich die Teammitglieder kennen und je authentischer sie miteinander sein können, desto geringer wird das Risiko, dass unausgesprochene Konflikte unter der Oberfläche brodeln und unbemerkt die Teamdynamik beeinträchtigen.
Flexibilität und Vertrauen
Jeder Mensch erbringt bessere Leistungen, wenn er nach dem eigenen Biorhythmus arbeiten kann. Ganz besonders gilt das für hochsensible Personen. Das traditionelle Modell, in dem die Arbeits- und Pausenzeiten festgelegt sind (wie z.B.: 08:00 Arbeitsbeginn, 10:00 Kaffeepause, 12:00 Mittagessen, 15:00 nochmal Kaffeepause, 17:00 Feierabend), funktioniert für die meisten Hochsensiblen nicht.
Erstens, benötigen (und ich schreibe mit Absicht »benötigen« und nicht »bevorzugen«) Menschen mit einem hochsensiblen Nervensystem öfter über den Tag verteilt kleine Pausen und kleine Mahlzeiten. Das liegt daran, dass sie ihr Gehirn konstant mit »Futter« versorgen müssen, damit es richtig arbeitet. Wann diese Pausen am sinnvollsten sind, ist von der jeweiligen Person und dem jeweiligen Tag abhängig.
Zweitens ziehen sich viele Hochsensible in ihrer Pause gerne zurück - das fällt natürlich mehr auf, wenn alle gleichzeitig Mittagspause machen und die HSP dann der/die Einzige ist, die diese Zeit alleine verbringen möchte. Im schlimmsten Fall wird es als Desinteresse am Team gewertet, dabei möchte sich die Person einfach nur wieder aufladen. Und das funktioniert am besten alleine, in einer stillen Umgebung oder bei einem Spaziergang in der Natur.
Drittens sind Hochsensible sehr eigenständige, selbstverantwortliche und freiheitsliebende Menschen. Vertrauen in ihre Eigenverantwortlichkeit spornt sie mehr an als jede Art von Kontrolle. Nicht ohne Grund sind einige HSP selbstständig oder freiberuflich tätig. Wenn Sie einer hochsensiblen Person eine Aufgabe geben, überlassen Sie ihr am besten komplett das »Wie«. Je mehr Gestaltungsspielraum Sie einer HSP lassen, desto besser wird das Arbeitsergebnis ausfallen. Denn die meisten HSP wissen genau, unter welchen Bedingungen sie am besten arbeiten können.
Sinnerfüllung und Gestaltungsmöglichkeiten
Dieser Punkt betrifft größtenteils die Tätigkeit an sich. Da die allermeisten HSP hochempathisch und gleichzeitig sehr kreativ sind, ist es Menschen mit diesem Charakterzug ganz besonders wichtig, ihr Berufsleben einem guten Zweck zu widmen und etwas von sich selbst darin ausdrücken zu können. Was genau meine ich damit?
Ich meine, HSP sind vor allem dann glücklich mit ihrer Arbeit, wenn sie die folgenden Fragen mit »Ja« beantworten können:
- Bewirke ich damit etwas Gutes?
- Diene ich damit anderen Menschen, der Umwelt oder einfach einem Zweck, der größer ist als ich selbst?
- Kann ich meine eigene Kreativität ausleben?
- Kann ich meine eigenen Ideen mit einbringen?
- Wenn man dieselben Aufgaben einer anderen Person geben würde, wäre das Ergebnis dann auch ein anderes?
Wenn Sie wissen, dass hochsensible Mitarbeitende in Ihrem Team sind, können Sie jetzt also berücksichtigen, dass diese richtig gut für kreative Aufgaben eignen und dass Sie sie immer wieder ganz besonders mit der Mission Ihrer Organisation motivieren können.
Expert:innen sagen, dass hochsensible Menschen früher die »Medizinmänner und -frauen«, die »weisen Berater:innen der Herrscher:innen« und auch z.B. die »Vermittler:innen zwischen verschiedenen Stämmen« waren. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die meisten hochsensiblen Menschen geradezu aufblühen, wenn sie von anderen um Rat gefragt werden. Sie wollen ein hochsensibles Teammitglied motivieren? Fragen Sie die Person um Rat und nach ihren kreativen Ideen und Lösungsvorschlägen! Das muss nicht unbedingt nur auf die Tätigkeit dieses/dieser Mitarbeitenden beschränkt sein, sondern kann sich auch auf bereichsübergreifende Themen und Herausforderungen beziehen. Da viele HSP Meister:innen darin sind, »the bigger picture« zu sehen, werden Sie vielleicht erstaunt über deren Vorschläge sein.
Und noch ein paar Schlussgedanken
Studien haben gezeigt, dass hochsensible Menschen stärker unter einem negativen Umfeld leiden. Aber auch, dass sie stärker positiv auf ein gutes, förderndes Umfeld reagieren als weniger sensible Personen. Das bedeutet, gerade dann, wenn die Bedingungen gut sind, können HSP zu absoluten High Performern werden. Es heißt auch, dass Sie an genau diesen Mitarbeitenden höchstwahrscheinlich zuerst erkennen werden, wenn etwas im Team oder am Arbeitsumfeld nicht in Ordnung ist.
Mit all dem möchte ich nicht sagen, dass HSP die »besseren« Mitarbeitenden oder generell die »besseren« Menschen sind. Ich möchte lediglich dazu beitragen, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass diese Personen oftmals übersehen oder völlig zu Unrecht unterschätzt werden. Zum Glück ist die Arbeitswelt gerade dabei, sich intensiv zu verändern. Diversität und auch Neurodiversität gewinnen immer mehr an Aufmerksamkeit und das freut mich persönlich riesig.
Denn, um die Welt ein Stück weit schöner, gerechter und friedlicher zu gestalten und den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen, brauchen wir die Einzigartigkeit jedes und jeder Einzelnen.
Ihre Organisation braucht sowohl schnelle Macher:innen als auch langsame Denker:innen, sowohl Extravertierte als auch Introvertierte, sowohl detailverliebte Analytiker:innen als auch Idealist:innen mit großen Visionen, sowohl normalsensible als auch hochsensible Menschen.
Lassen Sie uns eine Arbeitswelt gestalten, in der alle die Bedingungen vorfinden, die sie brauchen, um ihren besten Beitrag leisten zu können.
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