Dieser Gastartikel wurde verfasst von Simon Berkler, Co-Founder von TheDive und Autor von »The Stellar Approach«.
Alle Unternehmen wollen nachhaltig sein, aber das ist in unserem aktuellen Wirtschaftssystem gar nicht so einfach. Wie baut man eine ganze Organisation so um, dass sie nicht nur wirtschaftlich gesund ist, sondern sich auch um das Erhalten und Wiederherstellen unseres Lebensraums sorgt? Wie geht man mit Zielkonflikten zwischen Gewinnorientierung und Nachhaltigkeitsanforderungen um? Müsste sich für wirklich nachhaltiges Wirtschaften nicht eigentlich das ganze Wirtschaftssystem verändern?
Stimmt, denn tatsächlich belohnt unser aktuelles Wirtschaftssystem in großen Teilen immer noch lineares, extraktives und nicht-nachhaltiges Handeln. Auch wenn sich auf regulatorischer Ebene einiges getan hat und immer noch tut: Von einer Wirtschaftsordnung, die Nachhaltigkeit zum Standard macht und nicht-nachhaltiges Handeln konsequent sanktioniert, sind wir noch weit entfernt – erst recht in globaler Hinsicht.
Wie sollen Organisationen und Unternehmen damit umgehen? Darauf warten, dass die Gesetzgebung das erschafft, was man gemeinhin als »level playing field» bezeichnet? Dass also – idealerweise global – neue Spielregeln etabliert werden, die für alle Unternehmen gleichermaßen gelten? Das wäre sicher der einfachste und wirkungsvollste Ansatz, um die derzeitigen globalen Krisen zu lösen oder doch wenigstens abzuschwächen. Leider ist es aber auch einer der unwahrscheinlichsten. Denn die globalen Weltenlenker:innen waren sich schon lange nicht mehr so uneins wie heute.
Die Spielregeln ändern, während wir das Spiel spielen
Die schlechte Nachricht: Auch wenn die Politik nicht oder nicht schnell genug handelt, verschwinden die Probleme nicht. Der weltweite Energieverbrauch springt weiter munter von Rekord zu Rekord, die CO2-Emissionen steigen weiter an, die Biodiversität nimmt weiter rapide ab, die soziale Ungleichheit steigt. Und vieles davon hat damit zu tun, wie wir heute Wirtschaft betreiben.
Wir können in dieser Situation nicht nur auf die Politik schielen und darauf hoffen, dass sie diese Entwicklungen in den Griff bekommt. Wir alle – die Zivilgesellschaft, NGOs und eben auch die Unternehmen und Organisationen – haben eigene »Agency«. Wir alle gestalten Realität und wir sind aufgerufen, unsere Einflussmöglichkeiten zu nutzen, wenn wir eine lebenswerte Zukunft gestalten wollen.
Das ist keine einfache Aufgabe. Denn um unser heutiges Wirtschaftsmodell einem Update zu unterziehen, müssen wir die Spielregeln während des laufenden Spiels ändern. Das bringt einerseits unweigerlich Paradoxien, Zielkonflikte und Fragen mit sich, die sich nicht sofort beantworten lassen. Andererseits hat Weiterentwicklung schon immer so stattgefunden. In den seltensten Fällen konnten wir als Menschheit einfach mal die Pausetaste drücken, neue Regeln erfinden und dann weiterspielen.
Die Zukunft der Welt und die Zukunft des eigenen Unternehmens in Einklang bringen
Eine Beschäftigung mit der Frage, wie eine lebenswerte Zukunft aussieht und was einzelne Unternehmen dafür tun können, ist keine freiwillige Fingerübung, sondern ein Gebot der unternehmerischen Weitsicht. Denn ohne gesunden Planeten keine gesunden Menschen. Und ohne gesunde Menschen keine gesunde Wirtschaft. In dieser Reihenfolge.
Unternehmen sollten also schon alleine mit Blick auf ihre eigene Zukunftsfähigkeit ein Interesse daran haben, nicht nur ökonomisch erfolgreich zu wirtschaften, sondern mit ihren Aktivitäten auch zur Entwicklung der Gesellschaft und des Planeten positiv beizutragen. Wem dieser Grundgedanke nicht reicht, dem seien hier noch einige weitere Argumente an die Hand gegeben, warum die »Transformation Readiness«, also die Veränderungsbereitschaft der eigenen Organisation in Richtung Nachhaltigkeit und Regenerativität kritisch überprüft werden sollte:
- Sich verändernde Kund:innen-Bedürfnisse: Auch wenn der Preis oft entscheidet – Kund:innen werden in vielen Branchen sensibler für die Frage, wie nachhaltig die angebotenen Produkte oder Services eigentlich sind.
- Sich verändernde Bedürfnisse der Mitarbeiter:innen: Auch mit Blick auf die Attraktivität der Arbeitgeber:innen tut sich viel – zukünftige Talente sind mehr und mehr daran interessiert, sinnorientiert zu arbeiten. Das nachhaltige Engagement des Arbeitgebers spielt dabei eine wesentliche Rolle.
- Risiko- und Kostenmanagement: Investitionen, die heute nicht für die nachhaltige Transformation aufgebracht werden, fallen in den nächsten Jahren um ein Vielfaches multipliziert als Kosten auf die Unternehmen zurück.
- Resilienz der Geschäftsmodelle: Viele Businessmodelle, die heute noch funktionieren, werden in einer 2- oder 3-Grad-Welt kaum noch aufrecht zu erhalten sein (zur Erinnerung: wir sind heute bereits weltweit bei 1,5 Grad, in Europa sind es sogar schon 2,2 Grad!).
- Die Verantwortung für die kommenden Generationen: Ein moralisches Argument? Ganz sicher. Aber wir sind nun mal die Vorfahren derer, die mit den Konsequenzen unserer Entscheidungen leben müssen.
- Die sich verändernde Regulierung: Nicht zuletzt verändert sich natürlich auch die Regulierung immer weiter. Wer vor der Welle bleiben möchte, tut gut daran, Voraussetzungen zu schaffen, die die eigene Resilienz im Umgang mit neuen regulatorischen Standards erhöhen.
Zukunftsfähige Unternehmen brauchen eine neue Lösungskompetenz: »Context-based innovation«
Es ist klar, dass sich in den nächsten Jahren viel für die Unternehmen verändern wird. Wir alle sind in diesen Zeiten aufgefordert – man könnte fast sagen, wir sind gezwungen – sehr genau darauf zu achten, welche unserer Lösungen die heutigen Dysfunktionalitäten verstärken und welche Lösungen einen wirklich neuen Entwicklungsraum eröffnen.
Die Schlüsselkompetenz dafür bezeichnen wir als »context-based innovation«. Während Innovationen und neue Lösungen heute meistens nur die Dynamiken des eigenen Marktes berücksichtigen (z.B. Kund:innen, Wettbewerber oder auch den Regulierungsrahmen), geht die »context-based innovation« darüber hinaus und nimmt zusätzlich den weiteren Kontext in den Blick: Also die Fragen, welchen lokalen Einfluss das eigene Handeln hat und welche Auswirkungen die eigene Lösung auf das soziale Zusammenleben und auf die Gesundheit des Planeten hat. Nur Lösungen, die auf all diesen Ebenen einen positiven Beitrag nachweisen können, sind Lösungen, die auch morgen noch Bestand haben werden.
Wie aber verankert man eine solche neue Lösungs- und Innovationskompetenz in der gesamten Organisation? Genau dafür haben wir den Stellar Approach entwickelt, ein Teamentwicklungsprogramm, das diese Fähigkeiten flächendeckend in der ganzen Organisation verfügbar macht.
Die Kernelemente des Stellar Approach
Wenn wir in einer wünschenswerten Zukunft ankommen wollen, sollten wir zwei Fragen voneinander unterscheiden.
Erstens: Wie sähe eine solche Zukunft denn ungefähr aus?
Und zweitens: Wie kommen wir dahin?
Der Stellar Approach ist ein Transformationsbaukasten, der ein regeneratives Wirtschaftsmodell als Zielbild anvisiert und einen möglichen Entwicklungsweg für Organisationen vom extraktiven zum regenerativen Wirtschaften beschreibt. Der Ansatz ist so gestaltet, dass er Schritt für Schritt regenerative Kompetenzen in der gesamten Organisation erhöht. Jedes Team startet mit dem eigenen Einflussbereich. Dadurch wird sichergestellt, dass wir uns nicht an dem abarbeiten, was wir (noch) nicht ändern können, sondern schnell eine Erfahrung von (Selbst-)Wirksamkeit machen.
Orientierung geben uns dabei Prinzipien, Praktiken und Tugenden. Im Bild einer Reise gesprochen kann man die vier Prinzipien mit den Leitsternen der regenerativen Entwicklungsreise vergleichen. Sie zeigen uns an, ob wir generell in der richtigen Richtung unterwegs sind. Die sieben Praktiken sind die Ausrüstung für die Reise: Sie konkretisieren die regenerativen Prinzipien auf Handlungsebene. Die drei Tugenden sind eine Art »inneres Fitnesstraining«.
Die Stellar Prinzipien
Regenerativ heißt, stark verkürzt gesprochen, dass wir mit unserem wirtschaftlichen Handeln nicht nur keinen weiteren Schaden anrichten, sondern dass wir positiv zu unseren überlebenswichtigen Umgebungssystemen (Gesellschaft, Planet) beitragen. Warum? Weil wir Menschen nun mal ein friedliches Zusammenleben und einen gesunden Planeten zum Überleben brauchen.
Nachhaltig oder regenerativ?
- Nachhaltiges Wirtschaften hat zum Ziel, negative soziale und ökologische Effekte der Wirtschaft abzuschwächen, den ökologischen Fußabdruck zu verkleinern und damit Klimaneutralität zu erreichen (Net Zero).
- Regenerative Ansätze bemühen sich um systemische Lösungen. Sie verstehen Wirtschaft, Gesellschaft und Planet als lebende, aufeinander bezogene Systeme und haben zum Ziel, dass die Wirtschaft im Einklang mit den unverhandelbaren Prinzipien des Lebens steht und positiv zu den Lebensprozessen beiträgt (Net Positive).
- Nachhaltig und regenerativ sind kein Entweder-oder. Nachhaltiges Wirtschaften kann als ein mögliches Etappenziel auf dem Weg zu einer regenerativen Wirtschaftspraktik angesehen werden.
Um eine regenerative Wirtschaft möglichst kompakt beschreiben zu können (denn schließlich brauchen wir gemeinsame Begriffe von dem, worüber wir sprechen), nutzen wir die vier Stellar-Prinzipien:
Embedded: Wir Menschen und unsere Aktivitäten sind eingebettet in ein komplexes Beziehungsgeflecht, das von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägt ist. In einer regenerativen Wirtschaft sind wir uns dieser Abhängigkeiten bewusst und nehmen die Beziehungen zu unseren - menschlichen und nicht-menschlichen Stakeholder:innen - aktiv in den Blick.
Diverse: Leben braucht Vielfalt. Erst die Vielfalt verleiht dem Leben Resilienz. Regeneratives Handeln fördert Inklusion und Vielfalt und stärkt damit die Widerstandsfähigkeit des Gesamtsystems.
Circular: Werden und Vergehen ist die Grundform des Lebens. Auch unser eigenes Leben ist in diese großen Kreisläufe eingebettet. Regenerativ zu wirtschaften bedeutet, dass in allen Produkten und Dienstleistungen ein Kreislauf den nächsten speist und dass wir uns darüber bewusst sind, dass alle Dinge auf dieser Welt nicht nur einen Anfang, sondern auch ein Ende haben.
Long-term: Auch wenn das einzelne Leben endlich ist, ist doch der größere Lebensprozess prinzipiell unbegrenzt. Regeneratives Wirtschaften bedeutet, dass wir nicht in Quartalen, sondern in Generationen denken und die langfristigen Auswirkungen unseres wirtschaftlichen Handelns berücksichtigen.
Die Stellar Praktiken und die Stellar Tugenden
Mit den Stellar-Prinzipien ist das Zielbild zwar grob umrissen, es bleibt aber natürlich noch die Frage offen, wie sich Teams oder auch die gesamte Organisation in diese Richtung auf die Reise machen können. Dafür gibt es die Stellar-Praktiken und die Stellar-Tugenden.
Die Teams starten mit dem, was sie heute tun und beginnen, ihre Aktivitäten entlang der Stellar-Praktiken Schritt für Schritt nachhaltiger und regenerativer zu gestalten. Dabei werden sie ermuntert, Dilemmata und Zielkonflikte, die sich auf dem Weg ergeben, transparent zu machen (z.B. Zielkonflikte zwischen Profitabilitätsanforderungen und der nachhaltigen oder regenerativen Wirkung einer Leistung/eines Produkts). An den entstehenden Zielkonflikten nicht vorbei zu gehen, sondern sie sichtbar zu machen und die überlebenswichtigen Fragen deutlich zu stellen, ist der erste Schritt zur Veränderung – auch wenn wir nicht sofort eine Antwort auf alle Fragen haben. Wir müssen darauf vertrauen, dass manche der Antworten erst im Prozess entstehen.
Die sieben Stellar-Praktiken lauten:
- Vernetztheit verstehen: In welche gegenseitigen Abhängigkeiten sind wir als Team eingebettet? Auf welche menschlichen und nicht-menschlichen Stakeholder:innen haben wir welchen Impact?
- Eigenen Einflussbereich nutzen: Wie können wir im eigenen Einflussbereich dafür sorgen, dass wir unseren negativen Impact reduzieren und den positiven Impact erhöhen?
- Gemeinsame Intention setzen: Welchen Beitrag können wir als Team leisten, um die Organisation als Gesamtes regenerativer zu machen?
- Prozesse als Kreisläufe gestalten: Wie können wir dafür Sorge tragen, dass in all unseren Prozessen (Arbeitsprozesse, Herstellungs- und Serviceprozesse) das Denken und Handeln in Kreisläufen als Grundform verankert wird?
- Regenerative Entscheidungen treffen: Wie können wir sicherstellen, dass in unseren Entscheidungen der weitere Kontext eine Rolle spielt und die relevanten Perspektiven (z.B. des Erdsystems, der kommenden Generationen) berücksichtigt werden?
- Fortschritt sichtbar machen: Welche Indikatoren informieren uns darüber, ob wir auf dem richtigen Weg sind?
- Wirksam bleiben: Wie können wir sicherstellen, dass wir in unserer Kraft bleiben und auf der regenerativen Entwicklungsreise selbst nicht ausbrennen?
Auf der Ebene der einzelnen Personen helfen uns die drei Stellar-Tugenden Mut, Gestaltungsfreude und Ausdauer, immer wieder den individuellen Wasserstand zu prüfen und uns gegenseitig zu stärken. Die regenerative Entwicklungsreise ist ein Langstreckenlauf, und es braucht Mut und Ausdauer, um etwas Neues in die Welt zu bringen. Gleichzeitig ist es uns wichtig, darauf hinzuweisen, dass die regenerative Transformation eine Gestaltungsaufgabe ist, die auch Spaß machen darf. Die Belohnung: Gesunde Menschen auf einem gesunden Planeten.
Das größere Bild: Der Stellar Approach als Teil der Regenerativen Transformationsarchitektur
In der Praxis der regenerativen Transformation sind die Stellar-Teamreisen häufig eingebettet in weitere Arbeitsstränge wie z.B. strategisches Alignment auf Führungsebene, Innovation von Geschäftsmodellen oder natürlich auch das Setzen von Zielen, die Erfolgsmessung und das Reporting. Durch ein iteratives Vorgehen und das Sichtbarmachen der oben genannten Zielkonflikte stellen wir sicher, dass wir im Kontakt mit dem »Zukunftshorizont« einer regenerativen Wirtschaft bleiben, ohne den Kontakt zu den Realitäten und Anforderungen des heutigen Wirtschaftssystems abreißen zu lassen.
Der Stellar Approach versteht sich dabei nicht als dogmatisches Framework, sondern als Methodenbaukasten, der auf dem Entwicklungsweg unterstützen soll. Er gibt Orientierung, ist aber ergebnisoffen in der konkreten Umsetzung. Letztlich muss jede Organisation ihren eigenen regenerativen Weg finden, der Stellar-Approach hilft dabei.
Credits: TheDive Über den Autor
Dr. Simon Berkler ist Co-Founder von TheDive und seit über 20 Jahren als Unternehmer und Organisationsberater tätig. Mit TheDive arbeitet er an der Frage, wie eine lebensdienliche Weiterentwicklung des Wirtschaftssystems gelingen kann.
Er ist ausgebildeter Organisationsentwickler und verfügt über langjährige Erfahrung in der Begleitung mittlerer und großer Unternehmen in ihren jeweiligen Transformationsprozessen. Seine Schwerpunkte liegen dabei in den Bereichen organisationale und regenerative Innovation. Zu diesen Themen ist er immer wieder auch als Dozent aktiv, beispielsweise am Schumacher College in Devon, UK.
Seit 2014 unterstützt er die Bewegung der B Corporation dabei, sich in Deutschland zu etablieren; sein eigenes Unternehmen TheDive ist seit 2019 als B Corp zertifiziert.
2024 hat er gemeinsam mit Ella Lagé das Buch »Der Stellar Approach« im Campus Verlag veröffentlicht.